MA Projekt: MIDNIGHT TALES
„MIDNIGHT TALES. Von einem Erzählen außerhalb der Sprache“ MA Thesis von Theresa Stenzel
Welche Formen des Erzählens gibt es? Können Musik und Tanz erzählen? Ist das Erzählen eine performative Praxis? Wie ist mit alten, nicht zeitgemäßen Erzählstoffen umzugehen?
Diesen Fragen geht die ehemalige PKisF-Studierende Theresa Stenzel in ihrer Masterthesis „MIDNIGHT TALES. Ein interkulturelles Märchenforschungsprojekt“ nach. Die Fragestellungen für die Thesis gingen aus ihrer künstlerischen Arbeit MIDNIGHT TALES hervor, einer Performance mit mündlichem Erzählen auf Arabisch, Tanz, Gesang, Gitarre und Sounds, die 2022 als Kooperation mit dem Künstler*innenhaus Mousonturm Frankfurt von Theresa Stenzel, Youssef Laktina, Nadja Simchen und Nikolai Muck entwickelt wurde und das in Europa sowie in der arabischen Welt verbreitete Märchen „Das Rotkäppchen/Layla wa al-Dhib“ erzählt, hinterfragt und neu interpretiert.
Die Ausgangsfrage in MIDNIGHT TALES lautet: Wie rezipieren wir mündliche Erzählungen, deren Sprache wir nicht beherrschen? – Der Fokus rückt unmittelbar auf die musikalischen Parameter der Sprache, auf den Stimmklang, den Rhythmus oder die Melodie sowie auf die Körperlichkeit der Sprecher*innen, auf die Gestik und die Mimik, lautet die These der Arbeit. Um den verschiedenen Dimensionen der Sprache auf den Grund zu gehen, springt die Masterthesis zunächst weit zurück: Zu den Wurzeln der Sprache. Wie ist die menschliche Sprache entstanden? Entwickelte sie sich, wie zahlreiche Sprachforscher*innen meinen, aus dem Tanz und der Musik heraus?
[Leseprobe aus dem Beginn der Masterthesis: Das Märchen vom kleinen Tanzschritt]
Es war einmal ein kleiner Tanzschritt. Wie alle anderen Tanzschritte zeichnete er sich durch einen einzigartigen Charakter aus. Tag ein Tag aus flog der Tanzschritt mit seinen Tanzschritt-Freunden durch die Lüfte und wann immer sie Lust hatten, legten sie sich auf die vier Füße eines Lebewesens und führten darauf ihren Tanzschritt aus. Nach kurzer Zeit langweilte sie jedoch das Dasein auf den Füßen eines bestimmten Lebewesens und sie zogen weiter ihrer Wege.
Dem kleinen Tanzschritt missfiel etwas an dieser Art des Lebens und mit den Jahren wurde er immer betrübter: „Das kann doch nicht alles sein, was wir Tag ein Tag aus machen!“ überlegte er hin und her und drunter und drüber, und schließlich meinte er die Antwort gefunden zu haben. Das Wort „Tanz“ in seinem Namen musste auf etwas Größeres hindeuten, dachte er. Erst die Verbindung mit anderen Tanzschritten würde dem Wort „Tanz“ in seinem Namen einen Sinn geben. Als er den anderen Tanzschritten von seiner Idee berichtete, lachten diese ihn jedoch aus und flogen weiter.
Sie werden sich an dieser Stelle vielleicht wundern, liebe Leserinnen und Leser, doch, dass die Aufgabe eines Tanzschrittes darin besteht, sich mit anderen Tanzschritten zu einem Tanz zu verbinden, war den vielen orientierungslos umherfliegenden Tanzschritten zu jener Zeit noch nicht bewusst.
Also flog der kleine Tanzschritt von nun an alleine über die Lande und hielt Ausschau nach geeigneten Füßen, auf die er sich legen könnte. Er war überzeugt davon, dass, wenn er nur die richtigen Füße fände, die anderen Tanzschritte einsehen würden, dass es eine ausgezeichnete Idee war, sich mit ihm zu einem Tanz zu verbinden.
Nach Jahren der aussichtslosen Fußsuche kam er schließlich an einen Ort, an dem Wesen mit großem Kopf versuchten, sich aufzurichten, um auf zwei Füßen stehen zu können. Da sie dies bereits seit einigen Jahrzehnten versuchten, gelang es einigen ganz passabel das Gleichgewicht zu halten und geordnete Schrittfolgen auf zwei statt vier Füßen zurückzulegen. Der kleine Tanzschritt war begeistert. Wie aufregend und graziös wäre es, wenn er sich, statt auf die Füße eines Vierbeiners, auf die Füße eines solch zweibeinigen Wesens legen könnte? Eines der Wesen mit großem Kopf gefiel dem kleinen Tanzschritt besonders gut – es lief schon recht sicher auf zwei Beinen und machte dabei eine gute Figur.
Der kleine Tanzschritt war sich sicher: Dieses Wesen mit großem Kopf und zweibeinigem Gang sollte seine Tänzerin sein! Und siehe da: Die Verbindung mit seiner Auserwählten glückte tadellos. Schon gleich verwandelte sich der einfache Schritt seiner Auserwählten in ein leicht gehüpftes, anmutiges Schrittchen. Die anderen Wesen hoben ihre großen Köpfe und stießen verwunderte Jubelrufe aus. Kurze Zeit darauf vernahm der kleine Tanzschritt das Getuschel seiner Tanzschritt-Freunde, die zu dem Spektakel dazu geeilt waren. „Hängt euch an mich dran!“ rief der kleine Tanzschritt ihnen zu. Und schon entstand eine lange Kette aus aneinandergereihten Tanzschritten, die sich in den Bewegungen der Tänzerin ausdrückten.
[…]
Ach, was frohlockte das Herz des kleinen Tanzschrittes! Zufrieden legte er sich neben die tanzende Menge, und beobachtete, was sich auf dem Platze unter freiem Himmel abspielte.
Doch nach kurzer Zeit stellte er fest, dass ihm noch etwas fehlte. Zwar hatte er sein Ziel, ein System zu finden, auf welches sich alle Tanzschrittabfolgen beziehen können, erreicht, doch ließ ihn der Gedanke nicht los, dass die Sache noch nicht komplett war. Ein Klang fehlte den Rhythmen, etwas, das sich zusammen mit den Schrittabfolgen und dem geschlagenen Puls der Füße wohlklingend in das Ohr legt.
Also flog er zurück an jenen Ort, an welchem er vor langer Zeit, lange bevor er die Füße der auserwählten Tänzerin gefunden hatte, mit Tönen in Kontakt gekommen war. „Wenn ich die Töne überzeugen könnte, sich in die Stimmen der Tänzer zu legen, um sich mit uns, den Tanzschritten und den Rhythmen zu verbinden… was wäre das für eine Sensation!“
[…]
Doch, liebe Leserinnen und Leser, Sie merken, der kleine Tanzschritt ist übermütig, wir kommen vom Hölzchen zum Stöckchen! In dieser Geschichte hat er den Tanz und die Musik gefunden… Die Geschichte, wie er die Sprache gefunden hat, erzähle ich Euch ein andermal.
Wenn die Sprache als Zusammenführung und Weiterentwicklung von Tanz und Musik verstanden wird, erhebt sich die Frage, ob der Tanz und die Musik Narrative vermitteln können, und inwiefern diese sodann über die sprachlichen und kulturellen Grenzen hinaus gelten. Aus der Untersuchung der arabischen Sprache hinsichtlich ihrer Klang- und Körperlichkeit sowie der Erzählpotenziale von Musik und Tanz, definiert die Masterthesis das Erzählen als eine transmediale und performative Praxis. Das Erzählen ist nicht auf die Sprache reduziert, lautet es in der Thesis, sondern ist in jeglichen Medien vorzufinden. Das besondere des Erzählprozesses, unabhängig seines medialen Rahmens, liegt in der Bedingung einer performativen Situation: Nur wenn ein Erzählen im Moment, im Dialog mit Erzähler*in und Rezipient*in geschieht, befinden wir uns in einer Erzählung.
Die Masterthesis und die Performance MIDNIGHT TALES von Theresa Stenzel sind eine Hommage und zugleich eine Neubetrachtung der alten Praxis des Erzählens. Sie suchen nach einem gegenwärtigen Umgang mit den eingestaubten Märchen vergangener Jahre, sie sind ein Kompliment an die vielen verschiedenen Sprachen dieser Welt und sie suchen letztlich nach Möglichkeiten, Erzählung, Musik und Tanz als Mittler einer interkulturellen Verständigung zu verstehen und künstlerisch zu gestalten.